Heimgrooven

Man solle doch lieber die mittelalterlichen Wäschewaschanlagen fotografieren und nicht diese Schmierereien. Das Dorf habe viel mehr zu bieten, wirklich Schönes, meinen die beiden älteren Damen, die uns beim Fotografieren „erwischen“.

Tatsächlich sind aber doch die Zeichnungen, Bilder oder Graffiti an Häusern und Wänden lebendiger. Man bekommt eher ein Gefühl für ein Viertel, ein Dorf oder eine Stadt, wenn man die Streetart wahrnimmt.

Das alte Waschhaus war erst gar nicht aufgefallen, aber im Nachhinein wurde mir klar, dass ich auch davon ein Foto gemacht hatte:

Das Baskenland ist voll von „Schmierereien“, die meisten davon noch aus der Zeit, als der Separatismus deutlicher zu spüren war oder gar mit Waffengewalt versucht wurde, ein eigenes Land „Euskal Herria“ zu erzwingen. Man kann aber auch häkeln statt sprayen.

Wobei die Farbgebung hier eher an eine Flagge erinnert, aus einer unschönen Zeit in der Geschichte Deutschlands oder an Flaggen aus dem arabischen Raum. Welche und ob es überhaupt eine Bedeutung in den Farben dieser Stickerei gibt – wäre spannend zu erfahen. Die Landschaft hier stimmt nach wie vor sehr auf zuhause ein.

Nur wenige Kilometer von Frankreich entfernt genießen wir in Irun noch ein paar lokale Tapas zum Frühstück. Im Allgäu gibt es so etwas jedenfalls (noch!) nicht. Die Landschaft mag täuschen, die Küche kann es nicht! Im Fernsehen laufen Bilder von „San Fermin“, dem weltberühmten Fest in Pamplona. Wir hätten pünktlich dort sein können, aber wir haben es vorgezogen, einen großen Bogen darum zu machen. Manchmal hat man das Gefühl, man müsste „so etwas mitnehmen“, wenn man die Gelegenheit dazu hat. Aber bei diesen Bildern gerade – muss man nicht. Was MUSS man denn?

Frankreich hat uns wieder und um nicht dieselbe Strecke zu radeln wie im Herbst, entern wir in Hendaye sogleich einen Zug, der uns die Küste entlang bis nach Bayonne bringt. Auf dem Eurovelo 1 radeln wir noch bis zum Camping Municipale Les Pins Bleus in Labenne Océane.

Wie schön wäre eine Welt, in der Bunker nur noch diese Funktion hätten: Sitzplatz für die Beobachtung des Sonnenuntergangs.

Und wie friedlich wäre eine Welt, wenn Menschen sich nur noch mit Indiaka anstelle von Handgranaten bewerfen würden.

Ein kurzes Stück folgen wir noch dem Atlantik nach Norden – arm wirkt hier auf den ersten Blick nichts, für Yachthäfen und Golfplätze, damit es der Generation Silberlocke nicht langweilig wird, ist auch gesorgt.

Von Saint-Vincent-de Tyrosse besteigen wir wieder einen Zug, der uns bis La Rochelle bringt. Unser Ziel ist es den Heimweg mit Zug und Rad anzutreten. Daher suchen wir uns gute Verbindungen raus, die uns stressfrei vom Rad umsteigen lassen und dann wiederum auf dem Rad neue Regionen entdecken lassen.

La Rochelle ist die Hochburg der europäischen Austern-Produktion. Die Sabbatradler-Biographie weist bisher nur „eine halbe Auster“ auf, und somit ist klar, dass wir „sowas mal mitnehmen“ wollen. So starten wir von unserem Camping „Le Verger“ bei Dompiere sur-Mer am nächsten Morgen mit dem Ziel MIttagessen in einem kleinen, authentischen Lokal direkt an der Sèvre Niortaise.

Die Recherche-Abteilung (auf dem Bild oben im grauen T-Shirt) hat im Vorfeld ganze Arbeit geleistet und so sitzen wir dort an einem alten Fass – idyllisch am Fluss mit Austern, Gambas, Thunfischsteak und Muscheln. Die Biographie der Sabbatradler ist nach dem Essen um 77 Muscheln und sechs Austern reicher. Immerhin! Ob man das nun öfter braucht? Egal: Das Lokal ist so richtig nett, so wie man es sich vorstellt. Nicht übertrieben edel aber von hervorragender Qualität.

Überhaupt fällt auf, dass in Frankreich vieles wieder so „nett“ ist. Im Sinne von liebevoll. Allein, wie man beispielsweise Brot in einer Bäckerei darbieten kann.

Bis zum Camping „La Belle Henriette“ am gleichnamigen Naturschutzgebiet sehen wir den Atlantik so gut wie nie. Das liegt daran, dass es hier keine Route direkt am Meer gibt – da hat die Natur noch das Sagen: Marschland – Réserves Naturelles. Oder Feldland.

Stattdessen folgt man Kanälen, Feldern oder am besten den Sonnenblumen. Denn sie sind überall. Sonnige Fans am Wegesrand – sie erfreuen immer das Herz. Und man kann sich ein Vorbild an denen nehmen, die einfach über den Dinge stehen. Weitsicht ist gefragt in der heutigen Zeit.

Die Orte, durch die wir kommen, sind durchaus touristisch. Man kann ja auch an einem kleinen See im Ort Spaß haben, wie es scheint. Und das Meer ist ja nie weit.

Zum Radfahren ist es hier dennoch genial – alles verläuft auf Naturstrecken, Autos sieht man nur in den Orten, die man passiert. Es ist nicht ganz so abwechslungsreich oder gar spektakulär, dafür perfektes Radfahr-Universum.

Allerdings wird es allmählich ziemlich heiß am Tag und man merkt, dass sich auch die Orte am Meer immer weiter mit Urlaubswütigen füllen. Selbst der goldene Mann mit dem Koffer braucht bereits eine Pause.

Zeit, mal wieder in den Zug zu steigen. Und so düsen wir noch eine Radweg-Etappe bis zum Camping la Padrelle, der nicht weit vom Bahnhof mit dem wohlklingenden Namen „Saint Gilles Croix de Vie“ liegt.

Wir genießen einen stimmungsvollen Sonnenuntergang an der Steilküste, die stark an die Bretagne erinnert oder gar an das originale Britannien.

Wir sagen tschüss zu Meer und Möven, denn so schnell werden wir uns nun nicht mehr sehen, das ist uns klar.

Am nächsten Morgen sind wir zwangsläufig einmal so früh auf, dass uns eine rote Sonnenkugel begrüßt, die gerade über dem dunstigen Ort aufsteigt. Eine nördliche Stimmung breitet sich hier aus – das hat nichts mehr zu tun mit dem mediterranen Flair, das uns monatelang umgeben hat.

Der Zug bringt uns nach Nantes. In der Historie war dies die Hauptstadt der Bretagne, in den 60er Jahren wurde das Département Loire-Atlantique allerdings von der Bretagne abgespalten – mitsamt Nantes.

Von hier beginnen wir unsere Tour entlang dem Loire-Radweg flussaufwärts.

Die Loire ist – anders, als man vielleicht erwarten würde – ein sehr naturnaher Fluss. Sie entspringt im Massif Central und ist lediglich im Oberlauf etwas aufgestaut. Im Mittel- und Unterlauf ist sie ein frei fließendes Gewässer ohne Staudämme und Schleusen, was man bei der Größe kaum glauben kann.

Die Schönheit des Loire-Tals erkannte auch schon der französische Adel zu Beginn der Renaissance und errichtete die heute berühmten Schlösser am Ufer und im Hinterland. Kleinere Schlösser wirken eher wie Burgen, manch größere haben allerdings schon richtigen Schlosscharakter.

Wir beschränken uns darauf, das Schloss Chambort genauer anzusehen und die anderen im Vorbeifahren zu würdigen.

Bei über 400 Schlossanlagen wäre das sonst auch eine lange Heimreise. Der Bau des Schlosses Chambord wurde 1519 begonnen und gilt als Vorläufer von Versailles. Dafür, dass es für Franz I nur ein Jagdschloss war doch ziemlich dekadent und – man lese die Geschichte nach – eine Kompensation für politische Misserfolge.

Am Radweg „Loire a Vélo“ begegnen uns nun erstmals täglich andere Radreisende. Das ist ja auch nicht verwunderlich und wir hätten gedacht, dass es noch viel mehr sind.

Es fährt sich entspannt und angenehm, bis auf die Hitze, die sich erbarmungslos ab mittags ausbreitet und dafür sorgt, dass man lieber schneller am Camping beim kühlen IPA ankommt, als noch irgendein großes Besichtigungsprogramm zu absolvieren.

Das übernehmen hier ja eh die Insassen der zahlreichen europäischen Reisebusse.

Bis zum Camping in Beaugency folgen wir dem Strom – der uns stellenweise an den Mekong in Laos erinnert – und genießen die Ruhe und Ausgeglichenheit, die so ein Fluss ausstrahlt.

Künstler haben am Ufer mit ihren Werkstätten niedergelassen und bildhauern über den Sommer das, was sie so mit dem Fluss assoziieren.

Wir passieren malerische, kleine Orte.

Und auch größere, berühmte Städte wie Angers und Tours.

Und auch wieder Sonnenblumen.

Wir stehen auf „draußen zuhause“-Campingplätzen und entdecken lustige Geschöpfe.

Über Orléans – deren Besichtigung wir auf ein anderes Mal verschieben – fährt uns die französische Bahn bis Paris.

Mit 6 Stunden Zeit für den Bahnhofswechsel zum Gare de l’Est haben wir ein gutes Zeitpaket für eine Stadtrundfahrt, die uns sowohl an den Hauptattraktionen vorbeikommen lässt, als auch sehen lässt, dass es nicht alle in dieser Stadt so gut haben.

Wenn man schon obdachlos ist und im Rollstuhl sitzt, ist es doch gut, dass „ums Haus rum“ ein „Stressless Store“ ist, oder?

Wir fahren über die Pont Neuf zur abgebrannten Notre-Dame, wo man die Dokumentation des Wiederaufbaus bewundern kann und die Fassade von einer hölzernen Tribüne aus mustern. Von dort geht es über den Justizpalast und ein paar weitere Attraktionen zum Louvre.

Die Reichen und Schönen (naja, das muss jeder selbst beurteilen ;-) gehen im Shopping auf und haben anscheinend Begehrlichkeiten, die wir nicht nachvollziehen können und stehen auf Marken, die wir nicht kennen.

Paris kommt uns vor wie ein einziges Insta-Wunderland – naja, nicht ganz Paris, aber genau diese Stellen, die man zeigen muss. Eiffelturm, Louvre, usw. Und jede:r muss das gleiche Foto machen und doch irgendwie individuell sein.

Und vor allem aufgetakelt. Kaum eine Insta-Biene (egal welchen Alters), die sich hier nicht im engen Fummel oder Abendkleid durch die Stadt instaszeniert.

Mit etwas Abstand betrachtet ist das doch zum Umfallen komisch. Oder einfach nur schrecklich. Was würden sie denken, die Jahrhunderte alten Skulpturen, wenn sie könnten? Nach dem, was sie alles im Laufe der Zeit gesehen haben. Ist diese Zeit besser oder schlechter als vergangene Zeiten? Ist Narzissmus besser als Krieg? Oder führt eins zum andern?

Wir folgen dem Wipfel des Eiffelturms, um uns auch dort ein Bild zu machen.

Flezend vom Campingstuhl aus beobachten wir die bizarre Szenerie.

Vorher-Nachher Bilder könnte man mal machen und als Katalog herausbringen. Wie schnell verschwindet das aufgesetzte Lächeln zu einer grimmigen Fratze, wenn das Bild nichts geworden ist, oder noch schlimmer, wenn die Partner das Bild nicht richtig gemacht haben.

Macht man das Bild doch besser einfach gleich selber!

Dabei könnte es auch hier mal wieder so einfach sein: Nur den Eiffelturm fotografieren, und nicht noch das eigene Gesicht davorhalten!

Aber das scheint heutzutage nicht gefragt zu sein. Vielleicht liegt auch das „am Internet“. Es gibt schon so viele und so gute Bilder vom Eiffelturm – individuell wird es nur durch die eigene Visage. Ob es dadurch besser wird, beantworten lieber diejenigen, die diese Fotos (dis)liken.

Auch das gute alte Betrügerspiel „Hütchenspiel“ ist in den Gassen um den Eiffelturm noch populär. Wir beobachten die gut als Touristen getarnte Gruppe südosteuropäischer Leute, die mit dem Spieler ein Team bilden und lautstark Ärger, Freude und Spieleifer vortäuschen und hohe Geldbeträge hin und her schieben. Wenn man älter ist, kennt man dieses Spiel eigentlich und weiß, dass es nur einen Gewinner gibt und man selbst nicht gemeint ist. Aber daherlaufende britische Twens im Partymodus sind damit schon zu locken. In der kurzen Zeit, die wir verharren, um das Geschehen zu analysieren, fallen bereits mehrere Touristen darauf rein und verzocken ihr Geld. Ob sie einem leid tun sollen?


Wahrscheinlich nicht. Am Louvre hingegen treiben sich gut zwanzig der zum Betrügerclan gehörende Frauen herum, die Passant:innen Unterschriften für ein Gehörlosenprojekt abluchsen mit dem Ziel, dass man den Betrag, den man aufschreibt dann auch aushändigt. Es ist wirklich soo schlecht gemacht, dass es absolut durchschaubar ist. Von der üblen „offiziellen“ Projektbeschreibungskopie über die selbst gefälschten Unterschriftenlisten, über die Menge an Frauen, die gar nicht so tun, also wären sie taubstumm, obwohl sie es behaupten, sondern lautstark untereinander kommunizieren, über das Aufreten und die Kleidung der Mädels und Frauen. Aber auch sie profitieren vom Überraschungsmoment, dem jeder kurz erliegt, der angesprochen wird und von der schieren Masse der Tourinsten – ein paar Rookies finden sich immer.

Wir cruisen zum Gare de L’Est.


Ein TER bringt uns nach Straßbourg und nach ein paar Radkilometern haben wir plötzlich wieder deutschen Grund unter den Füßen. Fühlt sich komisch an. Wir flüchten uns schnell in ein türkisches Lokal und verdrücken eine Pide. Und die Moschee hinterm B&B Hotel in Kehl lässt uns noch ein bisschen in der Annahme, wir sind noch weit, weit weg von zuhause.

Doch tatsächlich sind wir schon ziemlich nah. Wir kombinieren Bahn (Kehl-Schiltach) mit Rad (Schiltach-Rottweil) mit Bahn (Rottweil-Ehingen) mit Rad (Ehingen-Camping Ersingen) und finden uns so am Abend vor drei Gerichten im Gasthof Hirsch in Ersingen wieder.

Dort ist im Garten ein Zeltplatz für Radler. Der Gasthof liegt direkt am Donauradweg. Gut bürgerlich stimmen wir uns auf die Heimat ein. Wir kaufen dem Franz noch ein paar selbstgebrannte Schnäpse aus seinem reichhaltigen Angebot ab und radeln am nächsten Morgen noch wenige Kilometer bis Ulm, um von dort den Zug ins Allgäu zu nehmen. So sind wir wirklich gemütlich heimgegroovt.

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