Also, ich weiß jetzt nicht, ob das im letzten Blog richtig rüberkam. Ich habe da ja behauptet, (Südwest-)Indien sei ein ganz normales/r Land(esteil), wie viele andere eben auch. Das stimmt insofern, als dass die Zustände in Indien ja eben oft als äußerst extrem dargestellt werden und damit im Westen große Unsicherheit auslösen und, ja auch, beängstigen. Stichworte: Frauenbild (2 Millionen Frauen sterben angeblich in Indien jährlich als Folge geschlechterbedingter Diskriminierung), Vergewaltigungen, Verkehr, Lärm, Luftverschmutzung, Dreck, Seuchen, Armut. Man könnte also meinen, hier erwarte einen die „Hölle auf Erden“. Und dann stellt man eben fest: Es gibt doch eine ganz, ganz große Menge friedlicher, fröhlicher Menschen, relativ saubere und gepflegte Dörfer, ja, Alltag und Normalität eben.
Aber, bei all dem muss man natürlich berücksichtigen, dass wir in den reichsten Bundesstaaten Indiens mit dem höchsten Bildungsniveau reisen und wir zudem für indische Verhältnisse sehr reich sind. Das heißt, wir bewegen uns komfortabel durchs Land. Das bessere Restaurant, das etwas schickere Hotel, das Bier am Strand, notfalls ein Taxi. Und damit sind wir natürlich ein Stück weit entrückt. Das Fahrrad hält uns aber wiederum näher an den Menschen, da wir durch kleine Dörfer fahren, wir im Straßenverkehr mitmischen müssen und in Städten nächtigen, die nicht auf dem Reiseplan westlicher Touristen stehen. Aber wir fahren eben meist trotzdem nur vorbei. Vorbei an den Luxusvillen mit den Luxuskarossen davor, hundert Meter weiter vorbei an kleinen Zelten aus blauen Plastikplanen unweit des Straßengrabens. Kinder spielen da, Frauen waschen, ältere Menschen liegen erschöpft in der schwülen Hitze. Auch das – vielleicht gerade das – ist Indien. Die Gegensätze sind hier eben besonders extrem. Und sichtbar. Das haben wir schon auch mal in anderen Ländern (wie z.B. China) gesehen, aber hier wirkt es so selbstverständlich. Ein neues, in vielen bunten Farben leuchtendes Haus, daneben die Wellblechsiedlung. Das Businesshotel, gleich gegenüber die kleinen Verkaufsstände. Der Anzugträger, das Handy am Ohr, vor sich das „Indian-Parcel“ (dicker Bauch, als Zeichen des Wohlstands), schlendert zu seinem Mercedes, vorbei am kleinen, humpelnden Männchen, barfuß, das versucht, ein paar Kekse zu verkaufen.
Warum ist das hier so normal? Dazu müsste man sich intensiver beschäftigen mit der indischen Geschichte, der Prägung durch den Hinduismus, das damit verbundene Kastensystem, das zwar seit 1949 offiziell abgeschafft ist, aber vor allem in ländlichen Gebieten nach wie vor die Existenz und Möglichkeiten eines jeden bestimmt. Das klaglose Akzeptieren, das sich Fügen in sein Schicksal als Teil der göttlichen Ordnung, die Annahme dieser als Selbstverständlichkeit ist vielleicht ein Weg zum Verständnis dieser Gegensätze. „Nach hinduistischer Philosophie ist die Welt wie ein riesiger Strom, der seit alters träge dahinfließt. Jeder Mensch hat seinen Platz in diesem Strom (…). Die Welt ist, wie sie ist, ihre Gesetze sind vom Menschen nicht zu beeinflussen.“ (Indien der Süden; Reise-Know How, 145). Welche der 330 000 Götter nun was bewirken, das wissen wahrscheinlich nur sie allein – aber dass bei 80% Hindus in der gesamtindischen Bevölkerung der Glaube doch weite Teile des Alltagslebens hier durchdringt, ist anzunehmen.
Wir sind und bleiben als Reisende Beobachter von außen. Das Land ist zu komplex für einfache Erklärungen, daher beschränken wir uns darauf, kleine Geschichten und Einblicke in das zu gewähren, was wir beobachten.
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